Yoga und die neuronale Plastizität – der Körper lernt ein Leben lang. Ausführliche Überarbeitung Juni 2022

Yoga Neuroplastizität

Yoga und die neuronale Plastizität – der Körper lernt ein Leben lang.

Gehen, Rennen, Radfahren, Schwimmen, Klettern; unser Gehirn vergisst essenzielle Bewegungsmuster nie. Sogar im Alter kann durch neue Bewegungsimpulse unsere Fähigkeit, neue Bewegungsabläufe zu erlernen, erhalten bleiben.
 
Wir werden mit nur wenigen, im Gehirn bereits vorhandenen Bewegungsmustern geboren. Dazu zählt z. B. der Saug- oder Greifreflex. Alle anderen Bewegungsabläufe wie das Robben am Boden, das koordinierte Greifen oder später das Krabbeln und Gehen muss erst durch Ausprobieren und Üben erlernt werden. Diese Fähigkeit zum motorischen Lernen ist für eine erfolgreiche Interaktion mit der Umwelt essenziell. Die Steuerung der „Willkürmotorik“ (Bewegung des Körpers, die durch den Willen oder das Bewusstsein gesteuert wird) geschieht vor allem in einem nur 2 cm breiten Streifen zwischen Stirn- und Scheitellappen, dem primären motorischen Cortex. Das ist ein Cortexareal des Stirnlappens (Lobus frontalis), das funktionell zum Motorcortex zählt und bildet den Bewegungsspeicher für alle motorischen Abläufe im Körper (Abb. 1).

primärer motorischer Cortex
primär motorischer Cortex
Neuronen
Neuronen

Doch wie erlernen wir komplexe Bewegungsabläufe?
Wir werden mit über 100 Milliarden Nervenzellen im Gehirn geboren, die Informationen speichern und verarbeiten können. Das klingt vielleicht beeindruckend viel, doch ohne Vernetzung bringt die reine Masse an Neuronen nichts. Erst durch den Kontakt über die Synapsen mit anderen Nervenzellen schafft unser Gehirn diese Verbindungen und somit die Grundvoraussetzung für das Lernen. Eine einzige Nervenzelle kann dabei mit bis zu 10.000 anderen Neuronen in Kontakt treten. Diese Fähigkeit der Vernetzung nennt man „neuronale Plastizität“ oder „Neuroplastizität“ – die Fähigkeit unseres Gehirns, sich durch Lernimpulse zu erhalten, zu erweitern oder anzupassen. Diese Plastizität bleibt bis ins hohe Alter erhalten. Lernt man also neue Bewegungsabläufe, werden diese mit der Zeit durch Vernetzung im motorischen Cortex gespeichert und können bei Bedarf abgerufen werden.
 
Die zwei Stufen des motorischen Lernens
Das Erlernen von motorischen Abläufen ist ein hochkomplexer Prozess. In der ersten Lernphase (Akquisitionsphase) erfolgen schnelle Fortschritte, die jedoch von einer hohen Variabilität in der Bewegungsabfolge gekennzeichnet sind und eine hohe Störanfälligkeit besitzen. Durch ein kontinuierliches Üben kommt es zu einer Steigerung der Bewegungsgeschwindigkeit mit einhergehender Genauigkeit in der Ausführung. Die Lernphase geht über in die Könnenphase (Konsolidierungsphase). Hier kommt es zur Bildung neuer Gedächtnisspuren durch synaptische Veränderungen (Neuroplastizität). Jetzt wird das Erlernte neuronal „stabilisiert“. In dieser Phase kann eine Verbesserung und Optimierung der motorischen Fähigkeiten auch ohne neue Lernimpulse geschehen. Hier spricht man von „Offlinelernen“.
 
Das Wunder der Bewegung
Einfache Bewegungen, wie z. B. das Kämmen der Haare, sind ein komplexes Zusammenspiel einer Vielzahl von Muskeln und Gelenken. Bei über 650 Muskeln und 140 echten Gelenken braucht der Körper dazu eine zentrale Koordinierungsstelle – den motorischen Cortex im Frontallappen. Hier werden alle räumlich-zeitlichen Abläufe von Bewegungen gesteuert. Dazu zählt die Anspannung der notwendigen Muskeln (Agonist und Antagonist) in der korrekten Abfolge und mit der richtigen Intensität, das Halten oder das Verzögern einer Bewegung. Eine permanente Rückmeldung über Gelenkstellung, Muskelspannung, Bewegungsrichtung und Lage des Körpers im Raum erhält das Gehirn dabei über die Propriozeptoren im Fasziensystem des Körpers. Je öfter man dabei eine Bewegung wiederholt, desto sicherer wird das Bewegungsmuster gespeichert und kann bei Bedarf abgerufen werden. Diese Form des Lernens von Bewegungsabläufen macht man sich auch in der Sturzprävention (Propriozeptionstraining) zunutze. Durch instabile Übungsabfolgen kann die Wahrnehmung und dadurch die neuronale Ansteuerung der stabilisierenden Muskulatur im Gelenk verbessert werden. Dabei darf man den Körper nicht unterschätzen. Er liebt neue Impulse und Herausforderungen und ist bis ins hohe Alter lernfähig. Wer also regelmäßig eine Position, eine Bewegung oder Bewegungsabfolge gezielt übt, vergrößert und vernetzt intensiver hier seinen motorischen Cortex und erlangt dadurch ein immer größer werdendes Bewegungs-Repertoire.
 
Yoga lernt man in kleinen, zielgerichteten Schritten
Um ein nachhaltiges Lernen des Yoga zu gewährleisten, braucht man ein sinnvolles Übungs- und Lernkonzept. Hier bietet sich »Vinyāsa krama« an, ein didaktisches Konzept, welches eine bestimmte Vorgehensweise in einer Unterrichtssituation beschreibt:
1. Erkenntnisse beim Schüler werden Schritt für Schritt angebahnt
2. Die Schritte sind auf die individuellen Voraussetzungen des Schülers zugeschnitten
3. Alle Schritte sind zielgerichtet
 
Befolgt man sowohl als Lehrender als auch als Schüler diese Vorgehensweise, kann man den Yoga in all seinen Facetten erlernen und später auch beherrschen. Man sollte Gelassenheit üben und dem Lernprozess seine notwendige Zeit lassen: lernen, begreifen, vertiefen, können.
 
Man kann seinem Körper und der Leistungsfähigkeit seines Gehirnes also getrost vertrauen und jederzeit mit Yoga beginnen, egal, welche Voraussetzungen man mitbringt. Man muss sich nur eine gute Yoga-Lehrerin oder -Lehrer suchen, der einen in diesem Lernprozess begleitet, motiviert und die Freude beim Yoga vermittelt. So wird der Yoga ein wichtiger und nachhaltiger Bestandteil im persönlichen Gesundheitsmanagement. Der BDYoga hilft bei der Suche von kompetenten Yogalehrenden gerne. Unter www.yoga.de/yoga-lehrerin-finden/ kann man eine Suchabfrage nach PLZ stellen.
 
Vinyāsa krama
 
Anhand einer komplexen Übungsabfolge möchte ich ein Grundprinzip des Vinyāsa krama erläutern: die besondere Anordnung von Übungen in sinnvoll aufeinander abgestimmten Schritten. Dieses Prinzip ist eine der Grundvoraussetzung für ein nachhaltiges Lernen von Bewegungsabläufen oder āsanas auf neuronaler Ebene. Der Yoga-Stil Vinyāsa krama geht auf den bekannten Yogi Śrī T. Krishnamacharya zurück. »Vi« steht für „besonders, bestimmt, in besonderer Weise“, »nyāsa« bedeutet „Anordnung, Aufstellung, Zusammenstellung, platzieren“ und »krama« heißt „Schritt, schrittweise“.
 
Die ausgewählte Übungsabfolge kommt aus dem Bereich der Sturzprävention und beinhaltet eine Variante des jānūrdhvá śīrṣāsana (Stirn-an-Knie-Stellung im Stehen) und des vīrabhadrāsana III (Heldenstellung III).
 
Diese Kombinationsübung aus zwei āsanas mit einem fließenden Übergang verbessert das Gleichgewicht, indem es u. a. die tiefen Stabilisatoren anspricht (z. B. Musculi multifidii = kleine Muskeln, die einzelne Wirbelkörper miteinander verbinden) sowie die Propriozeption trainiert (Schulung unserer Tiefenwahrnehmung).
 
Bei Pos. 1 werden in der Ausatmung zur Kräftigung der Rumpfmuskulatur beide Handflächen isometrisch gegen das Knie gerückt und das Knie gegen die Handflächen. In der Einatmung geht man mit einer fließenden Bewegung in Pos. 2. Diesen Bewegungsablauf führt man für einige Atemzüge aus. Zum Ende verweilt man dann 4-5 Atemzüge jeweils in Pos. 1 und 2 (Abb. 2+3)

Abb. 2
Abb. 3

Für Anfänger aber auch für Vorgeschrittene ist die Übungsabfolge herausfordernd und bedarf einer guten Vorbereitung. Wir betrachten jedoch nur den Hauptteil der Übungsabfolge und lassen die, im Vinyāsa krama typischen vorbereitenden Übungen, wie z. B. die Kräftigung des Fußgewölbes, der Oberschenkelmuskulatur und der Rückenmuskulatur, die Kräftigung und Dehnung der Gesäßmuskulatur und des Hüftbeugers oder die Mobilisierung der Hüftgelenke, außen vor.
 
Um ein nachhaltiges neuronales Lernen zu unterstützen, beginnen wir mit dem Üben von alternativen Posen mit einem geringeren Schwierigkeitsgrad.
 
Zunächst üben wir den Einbeinstand mit überkreuzten Armen (Abb. 4), bis eine Standsicherheit erreicht wird. Danach beginnen wir das Spielbein höher zu heben und die Arme seitlich nach unten auszustrecken (Abb. 5). Zum Schluss gehen wir in die erste Zielāsana und drücken beide Hände gegen das angehobene Knie (Abb. 6).

Abb. 4
Abb. 5
Abb. 6

Nach diesem Prinzip der Progression üben wir den Helden 3 bis wir auch hier eine gute Standsicherheit erreichen. Standbein leicht gebeugt, Spielbein mit dem Ballen noch am Boden (Abb. 7); Standbein leicht gebeugt, Spielbein angehoben (Abb. 8); Standbein annähernd gestreckt, Spielbein gestreckt und angehoben Abb. 9).

Abb. 7
Abb. 8
Abb. 6

Den fließenden Übergang von Position 1 mit angehobenem Knie zum Helden 3 kann man ebenfalls in verschiedenen Schwierigkeitsstufen üben. In der Übergangsphase kann das Spielbein kurz mit den Zehen aufgestellt werden, um sich zu stabilisieren (Abb. 10 – 12).

Abb. 10
Abb. 11
Abb. 6

Bei dieser Übungsabfolge sollte man den Übenden ermutigen, zu wackeln oder das Spielbein aufzusetzen. Wackeln ist ein wichtiger Trainingsreiz für die tiefen Stabilisatoren und trainiert zudem das Zusammenspiel von Propriozeptoren, dem Nervensystem und der Muskulatur (sensomotorisches Training). Je öfter man diese Übungsabfolge trainiert, desto sicherer wird man in der Ausführung. Das Verarbeiten der Trainingsimpulse auf neuronaler Ebene durch die Neuroplastizität sorgt also für ein Lernen und Vertiefen von motorischen Bewegungsabläufen im Körper.
 
Use it or lose it
Unser Gehirn und besonders die motorischen Areale lieben neue Herausforderungen. Es passt sich vielfältig und überwiegend elegant an neue Bewegungsanforderungen an. Yoga bietet mit seiner Vielzahl an āsanas und deren Varianten eine hervorragende „motorische Nahrung“ für ein neuronales Wachstum oder die Erhaltung bestehender Neuronenverknüpfungen. Nach dem Prinzip „use it or lose it“ stimuliert jede Bewegung, jede neue āsana, jedes vinyasa, jede motorische Herausforderung unsere Gehirnzellen, sorgt für das Erhalten von Verknüpfungen oder unterstützt die Neubildung von neuronalen Netzwerken. Diese Fähigkeit des Gehirns, sich permanent an seine Umwelt durch Vernetzung anzupassen, nennt man neuronale Plastizität und bleibt bis ins hohe Alter erhalten. Daher gibt es keine „Altersbeschränkung“ für Yoga. Bereits ein Yogakurs kann zu neuroanatomischen und neurophysiologischen Veränderungen führen. Ähnlich wie bei unseren Faszien („wer sich nicht bewegt, verklebt“) sorgt hingegen eine Bewegungsarmut für eine Reduzierung der neuronalen Verknüpfungen. Es treten «negative» plastische Prozesse ein, die mit einem Abbau von Nervengewebe verbunden sind. Die damit korrelierende Verschlechterung der allgemeinen Ausführungsqualität von Bewegungen (motorische Defizite) oder die Erhöhung der Sturzgefahr können schon nach kurzer Zeit auftreten. Yogalehrende sollten also nicht müde werden, auch ältere Menschen ermutigen, Yoga zu praktizieren.
 
Resümee
• Unser Gehirn ist ein höchst plastisches Organ, das sich ständig an die Umgebungsanforderungen anpasst.
• Besonders der motorische Teil liebt es, neue Herausforderungen zu meistern.
• Dabei sollte man achtsam, in kleinen, zielgerichteten Übungsschritten vorgehen (Vinyāsa krama)
• Yoga ist wie eine motorische Vollwertmahlzeit für unser neuronales Wachstum.
• Die Fähigkeit, neue Bewegungen zu lernen, ist bis ins hohe Alter vorhanden.
• Reduziert man jedoch sein Bewegungsspektrum, führt das zum Abbau von Nervengewebe mit einhergehenden motorischen Defiziten.
• Es ist nie zu spät, mit dem Yoga zu beginnen.
 
Richard Wehler
Yogalehrer BDYOGA, praktiziert in Berlin als Yogalehrer. Sein Fachgebiet ist Yoga in der Prävention. Seine Liebe zu medizinischen, anatomischen, physiologischen und therapeutischen Themen vertiefte er in verschiedenen Yoga-Therapie-Programmen und Anatomie-Seminaren. Richard Wehler hat 2016 das Zertifikat der Zentralen Prüfstelle Prävention erhalten und arbeitet seitdem hauptsächlich im Bereich präventive Gesundheitsvorsorge, modernes Gesundheitsmanagement und betriebliche Gesundheitsförderung. www.yogamoabit.de

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