Im Gleichgewicht bleiben – Yoga in der Sturzprävention.

Wir stehen, gehen, laufen, springen oder tanzen, ohne dass wir uns Gedanken machen müssen, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Unser Körper leistet dabei Erstaunliches. Ein komplexes Zusammenspiel von Sensoren, Nervensystem und Muskeln sorgt für das nötige Gleichgewicht damit wir nicht stürzen. Doch wie sehen diese sensomotorischen Fähigkeiten im Alter aus?

In meinem Artikel befasse ich mich mit den Möglichkeiten, die Yoga als zielorientierte Prävention zur Vermeidung von Stürzen bieten kann.

Neben der Verbesserung von Kraft, Koordination, Reaktionsgeschwindigkeit und Gleichgewicht bietet Yoga in der Prävention auch ein probates Mittel, um die Angst vor Stürzen zu nehmen, denn im Alter führt die Angst vor einem Sturz oft zur Vermeidung von Bewegung bis hin zur Verweigerung. Und das ist genau falsch und hätte fatale Folgen.

Ein Sturz kann vor allem bei älteren Menschen ein einschneidendes Ereignis sein, das oft den Beginn  einer gesundheitlichen Abwärtsspirale einleitet, an dessen Ende die Gefährdung der selbstständigen Lebensführung steht. Denn bei einem Sturz ist das Risiko von Knochenbrüchen durch den altersbedingten Abbau der Knochendichte sehr hoch (etwa ab dem 35. Lebensjahr nimmt der Mineralgehalt und somit die Knochenmasse allmählich ab). So sind schwere Knochenbrüche, wie zum Beispiel eine Hüftfraktur oder Oberschenkelhalsfrakturen, nicht selten, besonders bei Menschen über 65 Jahren.
Kommt noch eine Osteoporose hinzu, kann sogar die Knochendichte so weit abnehmen, dass die „Bruchgrenze“ überschritten wird. Dann können die Knochen sogar schon bei alltäglichen Belastungen brechen.

Stellen wir uns aber zunächst die Frage, warum gerade bei älteren Menschen die Sturzgefahr besonders hoch ist.

Altersbedingte Veränderung des Stütz- und Bewegungsapparates
Die Lebenserwartung in Deutschland hat sich in der letzten Jahrzehnten enorm gesteigert. Lag sie 1950 bei Frauen noch bei 68,5 Jahren (Männer 64,6 Jahren), wird sie 2020 bereits bei 84,1 Jahre liegen (Männer 79,1 Jahre)
Quelle: Statista.

Gesamtzahl der Stürze 2001-2009 60+

Muskeln, Knochen, Gelenke (einschließlich Knorpel und Synovialflüssigkeit) sowie der Halteapparat (Sehnen, Bänder und Faszien) verändern sich im Alter. Dieser normale biologische Prozess wirkt sich auf die Funktionalität und Beweglichkeit des Körpers aus.

Der Körper baut ab. Wir werden weniger.
Die Muskelmasse im Alter verringert sich kontinuierlich durch einen meist nicht gedeckten höheren Eiweißbedarf und durch Bewegungsmangel. So kann bis zum 80. Lebensjahr nahezu 30% der Muskelmasse schwinden. Durch eine erhöhte Zufuhr an Eiweiß und vermehrter Muskelaktivität kann dieser Prozess verlangsamt oder sogar gestoppt werden.

Auch die Wassermenge, die unsere Zellen im Inneren speichern, reduziert sich. Das hat wiederum eine große Bedeutung bei degenerativen Veränderungen im Gewebe der Gelenke wie Knorpel, Faszien oder Bändern.

Zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr hat unsere Knochenmasse ihre maximale Dichte erreicht. Danach nimmt sie langsam, aber kontinuierlich ab (ca. 1% im Jahr). Bei Frauen beschleunigt sich diese Reduktion durch den Abfall des Östrogenspiegels nach der Menopause bis zu 4% im Jahr. So können Frauen bis zum 70. Lebensjahr ca. 40% ihrer Knochenmasse verlieren (Männer ca. 12%). Auch diesen Prozess kann man durch Muskelaktivität (Knochen werden stärker, wenn sie unter Druck gesetzt werden) und eine gesunde und kalziumreiche Ernährung verlangsamen.

Verschleiß in den Gelenken
Im Alter ist Arthrose (Verschleißerscheinung von Gelenken) eine häufig auftretende Gelenkerkrankung, die oft aus eine Fehlbelastung, eine zu einseitige Belastung, oder gar durch Bewegungsmangel resultiert. Auch spielt hier die bereits genannte Verringerung des Körperwassers und die verminderte Blutversorgung der Gelenke eine Rolle.

Diese altersbedingten Veränderungen im Stütz- und Bewegungsapparat führen zu Störungen der neuromuskulären Koordination. Das Reaktionsvermögen nimmt ab, die Beweglichkeit und Kraft verringert sich und eine Dysbalance der Muskulatur stellt sich nicht selten ein.

Durch Bewegungsmangel und zu viel Sitzen verkürzen sich zudem bei älteren Menschen die Beugemuskeln des Hüftgelenkes. Die Folge ist ein nach vorne geneigter Gang mit der daraus resultierenden erhöhten Gefahr zu stürzen.
Durch eine Auswahl an āsanas (z. B. Varianten der Reiterstellung/Ausfallschritt, Abb. 1 und 2) zur Dehnung der Leiste kann wieder ein aufrechter Gang und damit eine Reduzierung der Sturzgefahr erreicht werden.

Reiterstellung (aśvasaṁcalanāsana) mit Hilfsmittel (Yoga-Block)

Abb.: Reiterstellung (aśvasaṁcalanāsana). Dehnung der Hüftbeuger mit Hilfsmittel.

Übersicht von Faktoren, die zu einen Sturz führen können:
Die Ursachen für Stürze werden in zwei Kategorien eingeteilt: die intrinsischen (von innen kommend) und die extrinischen Faktoren (von außen her).

Übersicht der intrinsischen Faktoren:

  • Krankheiten (z. B. Rheuma, Arthritis, Gleichgewichtsstörungen)
  • Seh- und Hörschwächen (beeinträchtigt die Orientierung im Raum)
  • Inkontinenz (ein zu schnelles Aufsuchen der Toilette)
  • Beeinträchtigte Balancefähigkeit
  • Beeinträchtigung der Beweglichkeit
  • Muskelschwäche und Dysbalance
  • Fehlhaltungen oder Fehlstellungen der Gelenke
  • Psychische Erkrankungen (z. B. Stress, Depressionen, Angstzustände)
  • Demenz
  • Medikation, die zu einer Benommenheit und Schwindelgefühlen führt

Übersicht der extrinischen Faktoren

  • Umgebung (z. B. Wohnung, Heim, Krankenhaus)
  • Ungeeignete Kleidung und Schuhe
  • Unzureichende Beleuchtung
  • Stolperfallen (z. B. Teppichkanten, Kabel, glatter Fußboden)
  • Defekte und falsch angepasste Hilfsmittel
  • Lockere oder fehlende Haltegriffe

Q.: Kuratorium für Verkehrssicherheit

Was ist der Gleichgewichtssinn?
Um im Lot zu bleiben und das Gleichgewicht zu halten bedient sich der Körper dreier Sinnesbereiche, die miteinander eng verbunden sind.

  1. Die Gleichgewichtsorgane des Innenohrs (Vestibularorgane)
  2. Unser Auge
  3. Rezeptoren in den Muskeln, Sehnen, Faszien, Gelenken, Gelenkkapseln und der Haut (Propriorezeptoren)

 

  1. Die Gleichgewichtsorgane im Innenohr registrieren alle Arten von Beschleunigungen und Lageveränderungen des Kopfes. Auf diese Weise können wir uns im Raum orientieren. Zu den Vestibularorganen gehören drei Bogengänge und zwei Makulaorgane. Die Bogengänge stehen jeweils senkrecht im 90°-Winkel aufeinander und erfassen so die drei Dimensionen des Raumes. Sie nehmen vornehmlich Änderungen von Drehgeschwindigkeiten wahr (z.B. eine Kopfdrehung).
    Die Makulaorgane nehmen die Schwerkraft wahr, sowie lineare Geschwindigkeitsveränderungen (z. B. beim Fahren im Aufzug oder beim Beschleunigen eines Autos).
  2. Unsere Augen senden ständig ein drei dimensionales Bild unserer Umgebung an unser Gehirn. Das Sehen vermittelt dem Gehirn wie und wo wir uns im Raum befinden. Konzentrieren wir uns z. B. auf einen festen Punkt, unterstützt das unmittelbar unsere Gleichgewichtsorgane bei der Arbeit. Im Yoga können wir uns das bei Gleichgewichtsposen zunutze machen (einen Punkt fixieren).
  3. Propriorezeptoren. Dieses Sinnessystem spielt in der Bewegung und Muskelkoordination eine wesentliche Rolle. Diese hoch spezialisierten Rezeptoren liefern unserem Gehirn permanent Informationen über die Gelenkbewegung, die Hautdehnung, die Muskelspannung, sowie die Zugkraft auf Sehnen und Faszien. Dadurch ermitteln sie ständig die aktuelle Gelenkposition. Am wichtigsten für das Gleichgewicht sind die Propriorezeptoren im Halsbereich. Daher ist bei vielen āsanas die korrekte und spannungsfreie Haltung des Kopfes (Retraktion, Kopfscheitel strebt nach oben) von besonderer Bedeutung.

Alle drei Sinnesorgane (Augen, Gleichgewichtsorgane und Propriorezeptoren) melden ihre Informationen in einen besonderen Bereich im Hirnstamm, den Gleichgewichtskernen (Vestibularkerne), wo sie verarbeitet und miteinander verbunden werden. Das Ergebnis sind Reflexmuster für die neuronale Ansteuerung der stabilisierenden Muskulatur des Bewegungssystems. Diese millionenfachen Prozesse laufen gleichzeitig in Millisekunden und ohne unser Zutun ab (autonom). Das Kleinhirn spielt dabei eine wichtige Rolle. Es sorgt für das richtige Maß der Bewegung und für eine Feinabstimmung zwischen den Muskeln des gesamten Bewegungssystems. Dabei hilft es ihm, auf erlernte und bewährte Bewegungsmuster zurückzugreifen.

Da unsere Gleichgewichtsorgane ihre Information auch an die höheren Zentren des Großhirns senden, können wir uns mit der nötigen Fokussierung durchaus unseres Gleichgewichts bewusst werden.

All diese Muskelreflexe halten unseren Körper im Lot oder bringen ihn dorthin zurück. Man unterscheidet dabei zwischen drei physiologischen Reflexmustern,  dem Stehreflex, dem Stellreflex und dem statokinetischen Reflex.

  1. Stehreflexe: Sie ermöglichen das Halten einer Position (z. B. in tadāsana ruhig und zentriert stehen)
  2. Stellreflexe: Sie bringen unseren Körper in eine normale Position zurück, z. B. beim stolpern oder auch wenn wir aus einer anspruchsvollen āsana wieder zurück kommen
  3. Statokinetische Reflexe: diese Reflexe werden bei Bewegung ausgelöst, etwa dem Gehen, Laufen oder Springen. Der Sonnengruß ist ein Beispiel für ein komplexes Zusammenspiel aller drei Reflexmuster.

Gleichgewicht ist also ein extrem schnell und unbewusst ablaufender Wahrnehmungs- und Steuerungsprozess, ein hochkomplexes Zusammenspiel unserer Gleichgewichtsinne, unseres Nervensystems und unserer reflektorisch gesteuerten Muskulatur.

Gleichgewicht lernen durch Yoga

Āsanas sind optimale Koordinationsübungen. Sie trainieren die neuromuskuläre Koordination insgesamt und führen zu einer „Neuprogrammierung“ der Reaktionsmuster, die zur Vermeidung eines Sturzes notwendig sind. Das Verbessern des Gleichgewichtsvermögens durch Yoga sollte immer in kleinen und angemessenen Schritten vonstatten gehen, denn die notwendigen Wahrnehmungs- und Steuerungsprozesse werden dabei immer nur dann sinnvoll trainiert, wenn sie auch in Erfolg münden.
Daher sollte man zunächst die statische Gleichgewichtsfähigkeit überprüfen. Mit einem einfachen Test kann man erkennen, ob die „Normwerte“ erreicht, überschritten oder unterschritten werden. Dazu stellen Sie sich im Einbeinstand mit gekreuzten Armen über der Brust aufrecht hin (Abb. 3), fixieren mit den Augen einen Punkt und zählen die Sekunden, wie lange Sie im Lot bleiben. Abbruchkriterien sind:

  • Hände verlassen die gekreuzte Position
  • Standbein bewegt sich zu stark (z. B. wird gedreht)
  • Spielbein schwingt oder berührt den Boden

Im zweiten Durchgang schließen Sie dabei die Augen.

Hier eine Übersicht der Normwerte für den Einbeinstand nach Altersgruppen in Sek.:
a) offene Augen                   b) geschlossene Augen
18-39 = ca. 43 Sek              18-39 = ca. 15 Sek
40-49 = ca. 40 Sek              40-49 = ca. 12 Sek
50-59 = ca. 37 Sek              50-59 = ca. 8 Sek
60-69 = ca. 27 Sek              60-69 = ca. 4 Sek
70-79 = ca. 15 Sek              70-79 = ca. 3 Sek
80-99 = ca. 6 Sek                80-99 = ca. 2 Sek
Q: Journal of Geriatric Physical Therapy – 2007

Um die Körperwahrnehmung und die angemessenen Reflexmuster beim Gleichgewicht zu trainieren, bietet der Yoga eine Vielzahl von verschiedenen āsanas und eine noch größere Zahl an Variationsmöglichkeiten an, die den Schwierigkeitsgrad vielfältig abstufen.
Dazu gehören nicht nur solche āsanas, die üblicherweise als „Gleichgewichtsübungen“ angesehen werden, sondern auch andere Yogastellungen.
Die häufigsten Balanceübungen im Yoga sind Stellungen auf einem Bein (z. B. „der Baum“ oder „Held III“) und auf den vorderen Zehballen (Variation der Bergstellung tādāsana/talāsana).

Beispiele klassischer Gleichgewichtsposen im Yoga: vṛkṣāsana (Baum), vīrabhadrāsana III (Heldenstellung III), talāsana (Palmenstellung)

Aber auch āsanas wie vīrabhadrāsana I, vasiṣṭhāsana, nāvāsana oder Variationen von cakravākāsana fordern vom Übenden ein hohes Maß an Gleichgewichtsvermögen.

Abb.: vīrabhadrāsana I (Held 1), vasiṣṭhāsana (seitliche Plank), nāvāsana (Boot) oder Variationen von cakravākāsana (diagonale Streckung im Vierfüßlerstand)

Wie schon erwähnt, entwickeln und festigen sich die notwendigen Reflexmuster bei Gleichgewichtsposen  nur durch Erfolgserlebnisse. Es hat wenig Sinn, wenn man nur für wenige Sekunden in einer anspruchsvollen Gleichgewichtspose verweilen kann bevor man sich wieder abstützen muss. Diese „Misserfolge“ sind sogar kontraproduktiv. Es kann sich die falsche Erkenntnis verfestigen, dass man es „einfach nicht kann“ und man resigniert.
Daher sind Anpassungen von anspruchsvollen āsanas für ein angemessenes und ein schrittweises Herangehen notwendig. Dabei kann man sich nicht nur der Variationsbreite bedienen, sondern sich auch Hilfsmittel wie Hocker oder Wände zunutze machen.


Denn je länger man eine Gleichgewichtspose erfolgreich halten kann, desto sicherer festigen sich die notwendigen sensomuskulären Reaktionsmuster. Der Körper erlangt dadurch eine bessere Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit.

Abb.: Gleichgewichtsposen mit Hilfsmitteln sorgen für eine schrittweise Anpassung des Schwierigkeitsgrades einer Übung.

Auch sie Dynamisierung einer Gleichgewichtspose, die in einer statischen Haltung endet, führt oft zu einem schnelleren Erfolgserlebnis. Bei allen Gleichgewichtsposen gilt es einen angemessenen Muskeltonus/eine erhöhte Grundspannung einzunehmen, damit der Körper nicht schlaff dasteht.

Abb.: talāsana (Palmenstellung) wird zunächst dynamisch geübt. Abwechselnd auf die Zehballen kommen und die Handflächen nach oben strecken. Dann wieder die Fersen auf den Boden bringen und die Handrücken auf den Kopfscheitel. Nach ein paar Wiederholungen dann statisch in der gestreckten Gleichgewichtshaltung verweilen.

Abb.: Eine einfache Variante vom Held III. Zunächst dynamisch den Fuß des Spielbeins heben und wieder absetzen, um dann in der Balancehaltung zu verweilen.

Um ein fortschreitendes Üben des Baumes zu ermöglichen, kann man diese Gleichgewichtshaltung mit verschiedenen Beinpositionen variieren.

Abb.: Fünf Alternativen mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden des Baumes:: 1. Ferse an das Fußgelenk, Zehballen bleiben geerdet, 2. Zehballen auf den Fußrücken, 3. Fußsohle an die Wade, 4. Fußsohle gegen den Oberschenkel gedrückt, 5. Bein in die padmāsana-Stellung

Eine interessante Erweiterung einer statischen Gleichgewichtspose ist die Abfolge von Armbewegungen während die Balance gehalten wird.

Abb.: Der Baum, Ausgangsposition namaskāra mudrā, Hände vor dem Brustbein zusammen bringen. EA: Arme nach oben Strecken in añjali mudrā, AA: Arme seitlich auf Schulterhöhe (naṭyarambe), EA: Arme nach vorne strecken, Finger gespreizt, Handflächen zusammen (ágra mudrā), AA: zurück in die Ausgangsstellung

Das Grundprinzip bei diesen Gleichgewichtsstellungen ist immer identisch. Der Körper wird aus dem Gleichgewicht in eine instabile Position gebracht, sodass er dagegen arbeiten muss. Das verbessert die sensomotorischen Fähigkeiten und stärkt ganze Muskelgruppen, die der Gelenkstabilisierung dienen und sonst kaum beansprucht werden. Diese Reaktionsmechanismen werden bei Erfolg abgespeichert, damit sie im entsprechenden Fall schnell abgerufen werden können. Ein weiterer positiver Effekt von Senso-motorik-Übungen ist das Ansprechen der kleinen, tief liegenden Muskeln zwischen den Wirbelkörpern. Das stabilisiert die Wirbelsäule und kann sogar bei Rückenschmerzen eine deutliche Verbesserung erzielen.

Aber auch wenn Gleichgewichtsübungen in der Prophylaxe allgemein die Körperwahrnehmung und Muskelreflexe verbessern, fordern unterschiedliche Gleichgewichtshaltungen immer differenzierte Steuerprozesse und Reflexmuster. Wenn man sicher auf einem Bein balancieren kann, heißt dass nicht, dass man auch den Handstand beherrscht oder ohne zu wackeln in vasiṣṭhāsana verweilen kann. Jede neue Pose, die eine hohes Maß an Gleichgewichtssinn verlangt, ist wie eine neue Herausforderung in Sachen Koordination und Reflexantworten.
Daher übt man in der Sturzprävention möglichst unterschiedliche Gleichgewichtsszenarien, um den Körper ein breites Spektrum an reflektorischen Antworten erarbeiten zu lassen. So kann der Körper im Falle eines Stolperns durch gelernte Reaktionsmuster gegenarbeiten und im optimalen Fall einen Sturz vermeiden bzw. abmildern.

Die Fähigkeit, das Gleichgewicht zu halten, unterliegt vielen körperlichen und mentalen Einflüssen.
Müdigkeit, Stress, innere Unruhe, Erschöpfung oder Angstzustände können sich genauso negativ auf den Gleichgewichtssinn auswirken, wie körperliche Hindernisse, etwa akute Schmerzen oder Verspannungen, muskuläre Dysbalnace oder Bewegungseinschränkungen durch Erkrankungen des Bewegungsapparates (z. B. Arthrose oder rheumatoide Arthritis).
Daher unterliegt die Fähigkeit, das Gleichgewicht zu halten, immer Schwankungen und ist abhängig von der „Tagesform“. Das sollte man beim Üben berücksichtigen.

Gleichgewicht fokussiert und bringt Freude
Wir haben gesehen, wie hochkomplex die biomechanischen Prozesse sind, die uns im Gleichgewicht halten. Wir wissen auch um die vielen Faktoren und Hindernisse, die unsere Balancefähigkeit beeinflussen. Die Fokussierung auf den eigenen Körper und die Freude, die entsteht, wenn man eine Gleichgewichtspose meistert, sind die Früchte eines fortschreitenden Übens. Und das führt zu einer sinnvollen und effektiven Sturzprävention nicht nur im Alter.

Nachhaltigkeit. Von der Matte in den Alltag.
Um eine sinnvolle Sturzprävention in den Alltag zu integrieren, kann man verschiedene einfache Regeln beachten:

  1. Laufen Sie zu Hause Barfuß. Das sensibilisiert die Propriorezeptoren im Fuß und unterstützt die Fuß- und Beinmuskulatur.
  2. Wenn Sie am Strand oder auf einer Wiese sind: Schuhe aus und Barfuß den natürlichen Untergrund genießen. Besonders das Strandlaufen trainiert intensiv die Muskulatur.
  3. Ordnen Sie Alltagsgegenstände höher in Schränken oder Regalen ein, damit sie sich etwas strecken oder auf den Zehballen balancieren müssen.
  4. Gewöhnen Sie sich an, hin und wieder beim Zähneputzen ein Bein zu heben (1 min. links, 1 min. rechts). Das verbessert nicht nur den Gleichgewichtssinn sondern unterstützt auch die Rumpfmuskulatur.
  5. Laufen Sie ab und zu bewusst langsam. Sehr langsam. Sie werden merken, wie anstrengend das sein kann und was für ein hohes Maß an Gleichgewicht es fordert.
  6. Laufen sie öfters Treppe, auch mal rückwärts, seitwärts oder sehr langsam.
  7. Geben Sie Ihrem Körper Zeit, zu lernen. Er wird es Ihnen danken.

Zusammenfassung:

  • Gleichgewicht setzt sich aus einer Vielzahl an sensomotorische Fähigkeiten zusammen, die im Alter abnehmen.
  • Die Fähigkeit, das Gleichgewicht zu halten unterliegt vielen Einflüssen und ist daher „tagesabhängig“.
  • Die 3 Sinnesbereiche, die das Gleichgewicht unterstützen, sind die Gleichgewichtsorgane des Innenohrs, das Auge und Rezeptoren in den Muskeln und Gelenken (Propriorezeptoren).
  • Das Risiko für schwere Knochenbrüche bei einem Sturz (z. B. Hüftfraktur oder Oberschenkelhalsfraktur) ist im Alter besonders hoch.
  • In der Sturzprävention übt man in angemessenen kleinen Schritten, um durch Erfolge die notwendigen Reflexmuster zu entwickeln und abzuspeichern.
  • Dazu nutzt man eine Vielzahl von Variationsmöglichkeiten der āsanas und Hilfsmittel wie Stühle oder Wände
  • Das Grundprinzip ist eine instabile Position, in der der Körper gegenarbeiten muss. Das verbessert die sensomotorischen Fähigkeiten und stärkt ganze Muskelgruppen. Diese Reaktionsmechanismen werden bei Erfolg abgespeichert, damit sie im entsprechenden Fall schnell abgerufen werden können.
  • Zur Sturzprävention gehören auch Kräftigungs- und Dehnübungen (z. B. Dehnung der Hüftbeuger, Kräftigung der Rumpfmuskulatur) sowie Mobilisationsübungen.
  • Gleichgewichtsposen fallen einem leichter, wenn man eine erhöhte Körperspannung aufbaut, den Kopf ausrichtet (Kopfscheitel zieht nach oben) und einen Punkt fixiert.
  • Eine erfolgreiche Sturzprävention sorgt für Selbstvertrauen und motiviert, sich zu bewegen.
  • Durch Üben im Alltag wird die Prophylaxe nachhaltig.
  • Gleichgewichtsübungen trainieren den gesamten Körper, stärken die Körperwahrnehmung, verbessern die Reflexmuster und sorgen für Freude beim Meistern einer Gleichgewichtspose.

Richard Wehler, Yogalehrer BDY/EYU, praktiziert in Berlin als Yogalehrer und ist Dozent für die BDY-Yogalehrer-Ausbildung in der Yoga Akademie Berlin (YAB). Sein Fachgebiet ist Yoga-Praxis und Didaktik sowie Yoga in der Prävention. Seine Liebe zu medizinischen, anatomischen, physiologischen und therapeutischen Themen vertiefte er in den modularen Yoga-Therapie-Programmen von Dr. Günter Niessen und HP Alexander Peters. Richard Wehler hat 2016 das Zertifikat der Zentralen Prüfstelle Prävention erhalten und arbeitet seitdem hauptsächlich im Bereich präventiver Gesundheitskurse. www.yogamoabit.de